Vierter Brief Klaras an die heilige Agnes von Prag
Der Hälfte ihrer Seele und dem Schrein ihrer herzlichen und einzigartigen Liebe, der berühmten Königin, der Braut des Lammes des ewigen Königs, der Herrin Agnes, ihrer liebsten Mutter und vor
allen anderen bevorzugten Tochter, entbietet Klara, Christi unwürdige Dienerin und unnütze Magd seiner Mägde, die im Kloster S. Damiano bei Assisi wohnen, Gruß und wünscht ihr, sie möge mit den
anderen hochheiligen Jungfrauen vor dem Throne Gottes und des Lammes das neue Lied singen und dem Lamme folgen, wohin es geht.
O Mutter und Tochter, Braut des Königs aller Zeiten, wundere Dich nicht, wenn ich Dir nicht so häufig geschrieben habe, wie Deine Seele und in gleicher Weise meine es ersehnt und von Herzen
begehrt.
Glaube ja nicht, daß das Feuer der Liebe zu Dir weniger liebevoll im tiefsten Herzen Deiner Mutter brennt.
Darin nämlich liegt das Hindernis: im Mangel an Boten und in den bekannten Gefahren der Straßen.
Indem ich aber jetzt Deiner Liebe schreibe, freue ich mich und frohlocke mit Dir in der Freude des Geistes, o Braut Christi, weil Du wie eine zweite hochheilige Jungfrau, die heilige Agnes, dem
unbefleckten Lamm, das hinwegnimmt die Sünden der Welt, wunderbar vermählt bist, nachdem Du alle Eitelkeiten der Welt hingegeben hast.
Wahrhaft glücklich, wem es gegeben wird, dieses heilige Gastmahl zu genießen, um mit allen Fasern des Herzens dem anzuhangen, dessen Schönheit alle seligen himmlischen Heerscharen unaufhörlich
bewundern, dessen Liebe reich beschenkt, dessen Betrachtung erquickt, dessen Güte erfüllt, dessen Liebenswürdigkeit wieder herstellt, dessen Andenken lieblich leuchtet, durch dessen Duft Tote
wieder aufleben werden, dessen glorreicher Anblick selig machen wird alle Bewohner des himmlischen Jerusalem, da es ein Abglanz der ewigen Herrlichkeit, ein Schein des ewigen Lichtes und ein
Spiegel ohne Makel ist.
In diesen Spiegel schaue täglich, o Königin, Braut Jesu Christi, und betrachte immer in ihm Dein Antlitz, auf daß Du Dich so gänzlich innerlich und äußerlich schmückst, bekleidet und umgeben von
bunter Pracht, mit der Mannigfaltigkeit aller Tugenden Dich umgibst, mit Blumen und Gewändern in gleicher Weise geschmückt bist, wie es sich geziemt, o Tochter und keuscheste Braut des höchsten
Königs.
In diesem Spiegel erstrahlen die selige Armut, die heilige Demut und die unaussprechliche Liebe, wie Du mit Gottes Gnade durch den ganzen Spiegel sehen kannst.
Beachte, sage ich, ganz vorne in diesem Spiegel die Armut dessen, der da in der Krippe liegt und in Windeln eingehüllt ist.
O wunderbare Demut, o staunenswerte Armut!
Der König der Engel, der Herr des Himmels und der Erde wird in eine Krippe gelegt!
In der Mitte des Spiegels aber betrachte die Demut, wenigstens aber die selige Armut, die unzähligen Entbehrungen und Mühen, die er um der Erlösung des Menschengeschlechtes willen auf sich
genommen hat. Am Ende dieses Spiegels aber beschaue die unaussprechliche Liebe, mit der er am Stamme des Kreuzes leiden und an ihm durch die schimpflichste Art des Todes sterben wollte. Als daher
dieser Spiegel selbst am Holz des Kreuzes angebracht wurde, da erinnerte er die Vorübergehenden an das, was sie erwägen sollten, indem er sprach: „Ihr alle, die ihr des Weges vorüberzieht, habt
acht und seht, ob ein Schmerz gleich meinem Schmerz!“
Laßt uns dem Rufenden und Weheklagenden mit einer Stimme und einem Geist antworten, wie er selbst sagt: „Immer denke ich daran, und meine Seele schmachtet in mir dahin.“
Daher also mögest Du vom Feuer der Liebe immer stärker entzündet werden, o Königin des himmlischen Königs.
Betrachte überdies seine unsagbaren Wonnen, seine Reichtümer und ewigen Ehre
und rufe aus, seufzend vor übergroßer Sehnsucht und Liebe des Herzens:
„Ziehe mich hin zu dir, wir wollen dem Dufte seiner Salben nacheilen, himmlischer Bräutigam!
Ich werde laufen und nicht ermatten, bis du mich in den Weinkeller führst,
bis deine Linke unter meinem Haupt ist, und die Rechte mich glückselig umarmen wird, du mich mit dem seligen Kuß deines Mundes küssen wirst.“
In dieser Beschauung erinnere Dich an Deine ärmliche Mutter und wisse, daß ich Dein glückseliges Andenken unauslöschlich auf die Tafeln meines Herzens geschrieben habe, weil Du mir teurer bist
als alle.
Was soll ich noch weiter sagen? Es schweige in meiner Liebe zu Dir die Sprache des Fleisches; dies sagt und spricht die Sprache des Geistes.
Die Liebe nämlich, die ich zu Dir hege, o gebenedeite Tochter, könnte die Sprache des Fleisches keineswegs vollständiger ausdrücken; sie spricht das aus, was ich nur unvollkommen geschrieben
habe. Ich bitte, Du mögest gütig und ergeben aufnehmen und darin wenigstens die mütterliche Zuneigung bemerken, wodurch ich alle Tage in der Glut der Liebe zu Dir und Deinen Töchtern entbrenne:
Ihnen empfiehl mich und meine Töchter herzlich in Christus.
Meine Töchter selbst aber, besonders die klügste Jungfrau Agnes, unsere Schwester, empfehlen sich Dir und Deinen Töchtern im Herrn, soviel sie vermögen.
Lebe wohl, liebste Tochter, mit Deinen Töchtern bis hin zum Throne der Herrlichkeit des großen Gottes und betet für uns.
Die Überbringer dieses Briefes, unsere liebsten Brüder, Amatus, beliebt bei Gott und den Menschen, und Bonagura, empfehle ich, soviel ich vermag, hiermit Deiner Liebe. Amen.